Na dann: Cheers
Letztendlich
sind wir alle die Opfer unserer Errungenschaften. Doch hat jede Kultur
andere Vorstellungen davon, was sie als Errungenschaft gelten lässt.
Beispielsweise gibt es Moslems, die bereit wären ihr letztes Hemd zu
opfern, um einmal nach Mekka zu pilgern, während der Nationalstolz
unzähliger Engländer auf ein lange zurückliegendes Tor gebaut zu sein
scheint – was dann noch nicht mal eines war.
Die Subkultur der
harten Trinker, die nach ihren eigenen Regeln und Idealen lebt, bildet
da natürlich keine Ausnahme. Jedoch hat sie es vorgezogen, diese Ideale
so zu gestalten, dass sie von der Leitkultur als unbotmäßig, ja
bisweilen gesetzeswidrig sanktioniert werden. Vielleicht ist dies der
Grund, warum das Cheers in den Augen der Bielefelder Leitkultur als –
nasagenwirmal – schlecht beleumundet gilt.
Zumindest ist das
so laut Angie, die bisher sieben ihrer 44 Lebensjahre hinter der Theke
des Cheers verbracht hat und den Ruf ihrer Arbeitsstätte gut mit der
allabendlichen Realität in Bezug setzen kann. „Es stimmt schon“, sagt
die Frau mit blondierter Kurzhaarfrisur, „wir haben hier ein anderes
Publikum als andere Läden, das wirkt für Außenstehende manchmal
befremdlich!“ Zu den Errungenschaften dieses Publikums zählt neben einer
entspannten Grundhaltung zum Thema Alkoholkonsum auch äußerste formale
Knappheit in der Bestellkommunikation: „Eeeey, manomma zwei Pils!“
schallt es aus einer im Halbdunkel verborgenen Sitzecke. Oder sollte man
sagen „lallt es“? Denn dafür, dass das Cheers erst vor einer knappen
halben Stunde – also um 24 Uhr – geöffnet hat, sind die beiden Freunde
des Frischgezapften schon gut bedient. „Es ist Monatsanfang, da trinken
unsere Gäste gerne und viel, das Geld sitzt halt noch locker“ erklärt
Angie, während sie die Luft aus zwei Gläsern raus- und frisches
Hasseröder reinlässt.
Manchmal führt das dann zu unschönen
Szenen: Nachdem ein Gast sich unlängst mit einer Flasche Mariacron an
den Rand einer Alkoholvergiftung gesoffen hatte, schlief er mit dem Kopf
auf der Tischplatte ein, was für das Cheers noch kein ungewöhnliches
Verhalten ist. Allein: als der Weinbrandafficionado erwachte, stand er
auf, ging in eine Ecke der Garderobe und ließ dort einem zutiefst
menschlichen Bedürfnis, nun: freien Lauf. Angie: „Ich geh natürlich hin
und brüll den an, ob er noch alle Tassen im Schrank hat, da sagt der
nur: Entschuldigung, ich dachte, ich wäre zuhause!“ Was die Sache
natürlich nicht unbedingt besser macht. Von solchen Zwischenfällen
abgesehen, kommt die resolute Schankkraft mit ihrer Stammklientel aber
bestens zurecht: „Ich habe mir in den sieben Jahren, die ich hier bin,
Respekt verschafft. Anders könnte ich den Job auch nicht machen!“
Inzwischen liebt sie das Cheers und seine Gäste, auch wenn der rustikale
Tonfall ihr zunächst befremdlich vorkam. „Mit der Zeit biegt man sich
seine Kunden aber zurecht und gewöhnt sich an vieles“ sagt sie und
ergänzt, dass viele der Stammgäste inzwischen fast sowas wie eine
Familie für sie geworden sind: Da gehe es ja auch oft etwas ruppig zu,
aber im Grunde mag und respektiert man sich.
Trotzdem seien an
den Wochenenden Türsteher da, vordergründig, um Zechpreller am
verrichten ihrer Tätigkeit zu hindern oder um Schlägereien zu
unterbinden. „Davon gibt es schon mal welche“ räumt Angie ein, „meistens
geht es um Kleinigkeiten. Wenn einer sich schief angeguckt fühlt oder
der Spielautomat an einem Abend das Monatseinkommen geschluckt hat“.
Dann gebe es schon mal Stress – der aber meistens schnell beigelegt ist.
Niemals die Faust erheben würde G., der an der Stirnseite der Theke das
Geschehen im Lokal wohlwollend verfolgt und dabei ein nicht enden
wollender Quell von Meinungen und Eischätzungen zum Leben im Allgemeinen
und dem im Bielefeld im Besonderen ist. Er kommt seit rund 15 Jahren
ins Cheers, das damals noch „Schatulle“ hieß. Bei so viel Treue ist
gutes Benehmen Ehrensache, und so stören ihn vor allem Gelegenheitsgäste
aus den umliegenden Discotheken. „Die kommen hier rotzbesoffen rein,
machen einen auf dicke Hose, lärmen rum und fangen dann an zu
diskutieren, wenn sie ihren Deckel nicht bezahlen können!“ Deswegen
meidet der etwa fünfvierzigjährige Vollbartliebhaber an den Wochenenden
seinen „Stammbetrieb“. Was den Laden für ihn davon ab so besonders
macht? „Das Cheers kann man nicht erklären, das muss man erlebt haben!“
Mit dem Erleben ist es für eine sichtbar angezählte Rothaarige grade
vorbeigegangen. Ihr Verhalten – regelmäßiges Aufsuchen der Toilette in
kurzen Intervallen und in Begleitung ihres Bierglases – hatte bei Angie
schon für leichtes Kopfschütteln gesorgt. Als die Dame, deren Äußeres
die Annahme evoziert, dass sie Nabokov hauptsächlich für eine Vodkamarke
hält, jedoch anfing, ihre Bestellungen mit undruckbaren Umschreibungen
für das weibliche Geschlecht zu untermauern, wurde es der resoluten
Kellnerin zu bunt: für die heutige Nacht ist die Rothaarige im Cheers
nicht mehr erwünscht. Immerhin ist so verhindert, dass sie noch an der
Stange tanzt, die für solipsistische Burlesqueeinlagen zwischen Decke
und Tanzpodest gedübelt wurde. Wird gar nicht so selten genutzt, merkt
Angie mit breitem Grinsen an, möchte sich zur Qualität der gebotenen
Tanzeinlagen aber lieber nicht äußern. „So um vier, fünf Uhr, da geht es
eigentlich erst los mit solchen Aktionen“. Jetzt ist es kurz vor Eins.
Eintretend nun Ivonne, mit langem Haar und suchenden Augen zunächst
unschlüssig im Raum stehend, dann aber mit offenem Blick auf die Theke
zusteuernd. Sich auf dem Barhocker fallen lassen und ein Alt bestellen
sind eines, mit beinahe wissenschaftlicher Sorgfalt ihre Unterlagen
sortieren ein weiteres. Immer wieder den Blick durch den Raum wandern
lassend, schreibt die brünette Dreißigjährige wie’s scheint
zusammenhanglos auf einen Ringblock, streicht durch, murmelt
kopfschüttelnd in sich rein und schreibt weiter. „Beobachtungen. Ich
beobachte und schreibe auf!“ entgegnet sie auf die Frage, was sie da
festhalte. Zu welchem Zweck? „Privat. Rein privat. Uns entgeht so
vieles, wir leben schnell und unbedacht, darum schreibe ich auf!“ Sie
zieht mehrmals die Woche nachts durch Bielefeld, von Kneipe zu Kneipe,
immer auf der Suche nach Dingen, die sie protokollieren kann. Eigentlich
kam sie nach Bielefeld, um zu studieren, aber das hat sie nach einigen
Jahren aufgegeben. Über die Gründe möchte sie sich nicht äußern, nur
soviel: „Seit ich die Stadt beobachte, habe ich das Gefühl, mich
wirklich wichtigen Dingen zu widmen!“ Wie etwa ihrem zweiten Alt.
Indes erforschen die Herren am anderen Ende der Theke weiter mit
größtmöglicher Sorgfalt die Wirkung von Alkohol auf den männlichen
Körper. Mir Ergebnissen rechnen sie nicht vor dem Morgen. Ihre
Versuchsreihe unterbrechen sie lediglich mit gelegentlichen Ausflügen in
die virtuelle Welt des drucktastergesteuerten Glücksspiels. Offenbar –
„Die blöde Kiste taugt auch nix!“ – ohne den erhofften Erfolg. Um
Schaden von ihrem Inventar abzuwenden, spendiert Angie zwei Kurze: „Der
geht auf’s Haus, dann ist Feierabend!“ Keine schlechte Idee!
Wir verlassen das Cheers, als am Himmel die vage Ahnung eines neuen
Tages erscheint. G. hatte Recht, erklären kann man den Laden nicht. Aber
ihn manchmal zu erleben kann durchaus unterhaltsam sein. Manchmal!
sb, es
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