Dienstag, 13. März 2012

Na dann: Cheers

Letztendlich sind wir alle die Opfer unserer Errungenschaften. Doch hat jede Kultur andere Vorstellungen davon, was sie als Errungenschaft gelten lässt. Beispielsweise gibt es Moslems, die bereit wären ihr letztes Hemd zu opfern, um einmal nach Mekka zu pilgern, während der Nationalstolz unzähliger Engländer auf ein lange zurückliegendes Tor gebaut zu sein scheint – was dann noch nicht mal eines war.

Die Subkultur der harten Trinker, die nach ihren eigenen Regeln und Idealen lebt, bildet da natürlich keine Ausnahme. Jedoch hat sie es vorgezogen, diese Ideale so zu gestalten, dass sie von der Leitkultur als unbotmäßig, ja bisweilen gesetzeswidrig sanktioniert werden. Vielleicht ist dies der Grund, warum das Cheers in den Augen der Bielefelder Leitkultur als – nasagenwirmal – schlecht beleumundet gilt.

Zumindest ist das so laut Angie, die bisher sieben ihrer 44 Lebensjahre hinter der Theke des Cheers verbracht hat und den Ruf ihrer Arbeitsstätte gut mit der allabendlichen Realität in Bezug setzen kann. „Es stimmt schon“, sagt die Frau mit blondierter Kurzhaarfrisur, „wir haben hier ein anderes Publikum als andere Läden, das wirkt für Außenstehende manchmal befremdlich!“ Zu den Errungenschaften dieses Publikums zählt neben einer entspannten Grundhaltung zum Thema Alkoholkonsum auch äußerste formale Knappheit in der Bestellkommunikation: „Eeeey, manomma zwei Pils!“ schallt es aus einer im Halbdunkel verborgenen Sitzecke. Oder sollte man sagen „lallt es“? Denn dafür, dass das Cheers erst vor einer knappen halben Stunde – also um 24 Uhr – geöffnet hat, sind die beiden Freunde des Frischgezapften schon gut bedient. „Es ist Monatsanfang, da trinken unsere Gäste gerne und viel, das Geld sitzt halt noch locker“ erklärt Angie, während sie die Luft aus zwei Gläsern raus- und frisches Hasseröder reinlässt.

Manchmal führt das dann zu unschönen Szenen: Nachdem ein Gast sich unlängst mit einer Flasche Mariacron an den Rand einer Alkoholvergiftung gesoffen hatte, schlief er mit dem Kopf auf der Tischplatte ein, was für das Cheers noch kein ungewöhnliches Verhalten ist. Allein: als der Weinbrandafficionado erwachte, stand er auf, ging in eine Ecke der Garderobe und ließ dort einem zutiefst menschlichen Bedürfnis, nun: freien Lauf. Angie: „Ich geh natürlich hin und brüll den an, ob er noch alle Tassen im Schrank hat, da sagt der nur: Entschuldigung, ich dachte, ich wäre zuhause!“ Was die Sache natürlich nicht unbedingt besser macht. Von solchen Zwischenfällen abgesehen, kommt die resolute Schankkraft mit ihrer Stammklientel aber bestens zurecht: „Ich habe mir in den sieben Jahren, die ich hier bin, Respekt verschafft. Anders könnte ich den Job auch nicht machen!“ Inzwischen liebt sie das Cheers und seine Gäste, auch wenn der rustikale Tonfall ihr zunächst befremdlich vorkam. „Mit der Zeit biegt man sich seine Kunden aber zurecht und gewöhnt sich an vieles“ sagt sie und ergänzt, dass viele der Stammgäste inzwischen fast sowas wie eine Familie für sie geworden sind: Da gehe es ja auch oft etwas ruppig zu, aber im Grunde mag und respektiert man sich.

Trotzdem seien an den Wochenenden Türsteher da, vordergründig, um Zechpreller am verrichten ihrer Tätigkeit zu hindern oder um Schlägereien zu unterbinden. „Davon gibt es schon mal welche“ räumt Angie ein, „meistens geht es um Kleinigkeiten. Wenn einer sich schief angeguckt fühlt oder der Spielautomat an einem Abend das Monatseinkommen geschluckt hat“. Dann gebe es schon mal Stress – der aber meistens schnell beigelegt ist. Niemals die Faust erheben würde G., der an der Stirnseite der Theke das Geschehen im Lokal wohlwollend verfolgt und dabei ein nicht enden wollender Quell von Meinungen und Eischätzungen zum Leben im Allgemeinen und dem im Bielefeld im Besonderen ist. Er kommt seit rund 15 Jahren ins Cheers, das damals noch „Schatulle“ hieß. Bei so viel Treue ist gutes Benehmen Ehrensache, und so stören ihn vor allem Gelegenheitsgäste aus den umliegenden Discotheken. „Die kommen hier rotzbesoffen rein, machen einen auf dicke Hose, lärmen rum und fangen dann an zu diskutieren, wenn sie ihren Deckel nicht bezahlen können!“ Deswegen meidet der etwa fünfvierzigjährige Vollbartliebhaber an den Wochenenden seinen „Stammbetrieb“. Was den Laden für ihn davon ab so besonders macht? „Das Cheers kann man nicht erklären, das muss man erlebt haben!“

Mit dem Erleben ist es für eine sichtbar angezählte Rothaarige grade vorbeigegangen. Ihr Verhalten – regelmäßiges Aufsuchen der Toilette in kurzen Intervallen und in Begleitung ihres Bierglases – hatte bei Angie schon für leichtes Kopfschütteln gesorgt. Als die Dame, deren Äußeres die Annahme evoziert, dass sie Nabokov hauptsächlich für eine Vodkamarke hält, jedoch anfing, ihre Bestellungen mit undruckbaren Umschreibungen für das weibliche Geschlecht zu untermauern, wurde es der resoluten Kellnerin zu bunt: für die heutige Nacht ist die Rothaarige im Cheers nicht mehr erwünscht. Immerhin ist so verhindert, dass sie noch an der Stange tanzt, die für solipsistische Burlesqueeinlagen zwischen Decke und Tanzpodest gedübelt wurde. Wird gar nicht so selten genutzt, merkt Angie mit breitem Grinsen an, möchte sich zur Qualität der gebotenen Tanzeinlagen aber lieber nicht äußern. „So um vier, fünf Uhr, da geht es eigentlich erst los mit solchen Aktionen“. Jetzt ist es kurz vor Eins.

Eintretend nun Ivonne, mit langem Haar und suchenden Augen zunächst unschlüssig im Raum stehend, dann aber mit offenem Blick auf die Theke zusteuernd. Sich auf dem Barhocker fallen lassen und ein Alt bestellen sind eines, mit beinahe wissenschaftlicher Sorgfalt ihre Unterlagen sortieren ein weiteres. Immer wieder den Blick durch den Raum wandern lassend, schreibt die brünette Dreißigjährige wie’s scheint zusammenhanglos auf einen Ringblock, streicht durch, murmelt kopfschüttelnd in sich rein und schreibt weiter. „Beobachtungen. Ich beobachte und schreibe auf!“ entgegnet sie auf die Frage, was sie da festhalte. Zu welchem Zweck? „Privat. Rein privat. Uns entgeht so vieles, wir leben schnell und unbedacht, darum schreibe ich auf!“ Sie zieht mehrmals die Woche nachts durch Bielefeld, von Kneipe zu Kneipe, immer auf der Suche nach Dingen, die sie protokollieren kann. Eigentlich kam sie nach Bielefeld, um zu studieren, aber das hat sie nach einigen Jahren aufgegeben. Über die Gründe möchte sie sich nicht äußern, nur soviel: „Seit ich die Stadt beobachte, habe ich das Gefühl, mich wirklich wichtigen Dingen zu widmen!“ Wie etwa ihrem zweiten Alt.

Indes erforschen die Herren am anderen Ende der Theke weiter mit größtmöglicher Sorgfalt die Wirkung von Alkohol auf den männlichen Körper. Mir Ergebnissen rechnen sie nicht vor dem Morgen. Ihre Versuchsreihe unterbrechen sie lediglich mit gelegentlichen Ausflügen in die virtuelle Welt des drucktastergesteuerten Glücksspiels. Offenbar – „Die blöde Kiste taugt auch nix!“ – ohne den erhofften Erfolg. Um Schaden von ihrem Inventar abzuwenden, spendiert Angie zwei Kurze: „Der geht auf’s Haus, dann ist Feierabend!“ Keine schlechte Idee!

Wir verlassen das Cheers, als am Himmel die vage Ahnung eines neuen Tages erscheint. G. hatte Recht, erklären kann man den Laden nicht. Aber ihn manchmal zu erleben kann durchaus unterhaltsam sein. Manchmal!
sb, es

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