Dienstag, 13. März 2012

Ein Leben in Bielefeld

Die 82-jährige Inge Winterhalter(geborene Gössling) ist fest mit ihrer Heimatstadt Bielefeld verwurzelt. Besonders im Norden Bielefelds, in „ihrem“ Stadtteil Schildesche, fühlt sie sich heimisch. Bereits 1947, kurz vor ihrem Abitur und ihrer anschließenden Ausbildung zur Bankkauffrau, lernte die damals 17 Jährige ihren späteren Ehemann Friedemann Winterhalter kennen, den sie zwei Jahre später heiratete. Zusammen mit ihrem 1999 verstorbenen Mann hat sie drei Kinder. Mit vielen Orten in Bielefeld verbindet Inge Winterhalter einen Teil ihrer persönlichen Geschichte. Dazu zählen unter anderem das Restaurant „Schöne Aussicht“ in der Nähe der Sparrenburg, ein ganz besonderes Haus im Bielefelder Stadtteil Schildesche sowie die im Norden Bielefelds gelegene Eisenbahnbrücke.

Das Restaurant und Tanzlokal „Schöne Aussicht“
Noch heute sind das Restaurant und der 1985 erbaute Wellness-Club „Schöne Aussicht“ im Bielefelder Stadtteil Gadderbaum ein beliebtes Ausflugsziel bei Wanderern und Erholungssuchenden. Schon in den 1930er-Jahren lockte das Restaurant vor allem aufgrund seiner Lage über der Stadt und der Nähe zur Sparrenburg viele Spaziergänger zum Verweilen ein. „Besonders an den Wochenenden habe ich mit meinen Eltern kleine Ausflüge zur ‚Schönen Aussicht‘ unternommen. Wir sind dort oft mit befreundeten Familien und deren Kindern bis zum Restaurant spaziert. Damals war dort noch im Garten ein Affenkäfig mit einigen Schimpansen. Neugierig wie kleine Kinder sind, habe ich meinen Kopf durch die Gitterstäbe gedrückt und konnte ihn nicht mehr herausziehen. Erst mein Vater und ein herbeigeeilter Freund von ihm konnten die Gitterstäbe so weit auseinander ziehen, sodass meine Mutter meinen Kopf herausführen konnte. Von da an habe ich den Affenkäfig natürlich immer gemieden“, scherzt Inge Winterhalter. „Nach dem Krieg war ich dort oft mit meinem Freund und späteren Mann zum Tanzen. Einige Male haben wir dort auch die Hochzeiten von Freunden und Bekannten gefeiert. Man kann also sagen, dass mich die ‚Schöne Aussicht“ immer wieder begleitet hat.“

Das Haus der Familie Grönewald
Das NS-Regime trieb die Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden in Deutschland in den Jahren nach der Machtergreifung 1933 immer weiter voran. Mit der Reichsprogromnacht am 9. November 1938 gipfelte diese systematische Ausgrenzung zum ersten Mal in groß angelegten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegenüber den Juden. Im Anschluss wurden immer mehr Juden in Konzentrationslagern deportiert und ab 1941 systematisch in sogenannten Vernichtungslagern ermordet. Auch in Bielefeld kam es zu Übergriffen und Deportationen von Juden und anderen Menschen, die das NS-Regime als „minderwertig“, störend oder aufwieglerisch erachtete. In besonderer Erinnerung ist Inge Winterhalter die jüdische Familie Grönewald.
„Meine Mutter Klara Gössling war Schneiderin und ging nachts heimlich zu der Familie Grönewald, um bei ihnen für die Anfertigung von Kleidung Maß zu nehmen. Wenn herausgekommen wäre, dass sie für eine jüdische Familie Kleider schneidert, hätte meine Mutter mit schweren Strafen rechnen müssen. Zum Dank erhielt sie von der Familie eine Kristallschale, die wir heute noch besitzen. Viele Familien brachten ihre Kinder ins Ausland als die Ausgrenzung und die Verfolgung der Juden zunahm. So handelten auch die Grönewalds, indem sie ihre Kinder nach Südamerika schickten. Herr Grönewald wollte Deutschland nicht verlassen, weil er der Auffassung war, dass ihn und seine Frau seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg vor weiteren Übergriffen des NS-Regimes schützen würde.
Mit vielen anderen Juden wurden auch die Grönewalds vor ihrer Deportation in ein Konzentrationslager in einem Saal am Kesselbrink gesammelt und mussten unter Zwang unterschreiben, dass sie auf ihr Haus und ihren übrigen Besitz verzichten. Als die Menschen in Bielefeld davon erfuhren, begannen sie, das Haus der Familie zu plündern. Nach der Schule, ich muss etwa elf Jahr alt gewesen sein, ging ich zusammen mit einer Schulfreundin zu dem Haus, wo viele andere Leute dabei waren, Dinge aus dem Haus zu tragen. In einem Zimmer fanden wir einige Nesthäkchen-Bände der Kinderbuchautorin Else Ury, die wir beide sehr gerne lasen. Als ich mit dem Buch nach Hause kam, war meine Mutter entsetzt und schickte mich zurück in das Haus der Grönewalds. Meiner Mutter ließ den Einwand nicht gelten, dass meine Schulfreundin sich dann das Buch nehmen würde und unter Tränen legte ich den Nesthäkchen-Band wieder zurück in das Zimmer im Haus der Grönewalds.“
Der Schildescher Viadukt
Mit vielen geschichtsträchtigen Orten in Bielefeld verbindet die 82-Jährige auch ihre ganz persönliche Geschichte. Dazu zählt besonders der Schildescher Viadukt, der das Johannisbachtal überbrückt und so den Zugverkehr zwischen Minden und Hamm ermöglicht. „Die Bahnstrecke ist nur einen Kilometer weit entfernt von meinem Haus. Als die Eisenbahnbrücke 1847 erbaut wurde, half mein Ur-Großvater beim Bau. Weil zunehmend immer mehr Unternehmen ihre Fertigung auf automatische Webmaschinen umstellten, gehörte auch er zu den vielen Angestellten, die ihre Arbeit in den Textilmanufakturen verloren. Folglich war er sehr froh, auf der Baustelle des Viadukts eine Anstellung zu haben. Doch durch den feinen Staub auf der Baustelle zog er sich eine Lungenkrankheit zu, die ihn bereits mit 48 Jahren dahinraffte.“
Als im September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, wurde der Schildescher Viadukt zu einem wichtigen Ziel der alliierten Bomberverbände. Erst kurz vor Kriegsende am 14. März 1945 konnten britische Bomber den Viadukt mit einer zehn Tonnen schweren Spezialbombe zerstören. Das Gebiet um die Eisenbahnbrücke glich einer Kraterlandschaft. Nur wenige Häuser in der unmittelbaren Umgebung blieben von den unzähligen Angriffen verschont – das Haus von Inge Winterhalters Familie zählte dazu: „Für die Schildescher war es ein befreiendes Gefühl. Mit der Zerstörung des Viadukts mussten sie nun endlich keine Bomber mehr fürchten. Besonders befreiend war es auch für mich, denn mein Vater war in der Wehrmacht und wurde damit beauftragt, den Viadukt vor Sabotageakten zu sichern und ihn beim Anflug von Bombergeschwadern zu vernebeln, um den alliierten Besatzungen das Bombardieren der Eisenbahnbrücke zu erschweren.
Nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 kamen immer wieder britische und amerikanische Offiziere zur zerstörten Brücke, um die Schäden zu begutachten. Für die Kinder, genau wie für meinen 1951 geborenen Sohn Ulrich, waren die Ruine des Viadukts und die mit Wasser gefüllten Bombenkrater wie ein großer Spielplatz. Nach dem Krieg war mein Mann bei der Baufirma Philipp Holzmann tätig. Als die Brücke wieder aufgebaut wurde, war er auf der Baustelle als Bauleiter tätig. Man kann also sagen, dass ich eine sehr gute Verbindung zu diesem Bauwerk habe.“

Wenn ich beispielsweise einkaufen gehe, mit der Straßenbahn in die Stadt fahre oder Freunde besuche, komme ich an vielen Orten oder Gebäuden vorbei, mit denen ich unzählige Erinnerungen verbinde. Das lässt Bielefeld und ganz besonders Schildesche zu meiner Heimat werden.“

sw

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