Das Restaurant und
Tanzlokal „Schöne Aussicht“
Noch heute sind das
Restaurant und der 1985 erbaute Wellness-Club „Schöne Aussicht“
im Bielefelder Stadtteil Gadderbaum ein beliebtes Ausflugsziel bei
Wanderern und Erholungssuchenden. Schon in den 1930er-Jahren lockte
das Restaurant vor allem aufgrund seiner Lage über der Stadt und der
Nähe zur Sparrenburg viele Spaziergänger zum Verweilen ein.
„Besonders an den Wochenenden habe ich mit meinen Eltern kleine
Ausflüge zur ‚Schönen Aussicht‘ unternommen. Wir sind dort oft
mit befreundeten Familien und deren Kindern bis zum Restaurant
spaziert. Damals war dort noch im Garten ein Affenkäfig mit einigen
Schimpansen. Neugierig wie kleine Kinder sind, habe ich meinen Kopf
durch die Gitterstäbe gedrückt und konnte ihn nicht mehr
herausziehen. Erst mein Vater und ein herbeigeeilter Freund von ihm
konnten die Gitterstäbe so weit auseinander ziehen, sodass meine
Mutter meinen Kopf herausführen konnte. Von da an habe ich den
Affenkäfig natürlich immer gemieden“, scherzt Inge Winterhalter.
„Nach dem Krieg war ich dort oft mit meinem Freund und späteren
Mann zum Tanzen. Einige Male haben wir dort auch die Hochzeiten von
Freunden und Bekannten gefeiert. Man kann also sagen, dass mich die
‚Schöne Aussicht“ immer wieder begleitet hat.“
Das Haus der Familie
Grönewald
Das NS-Regime trieb die
Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden in Deutschland in den
Jahren nach der Machtergreifung 1933 immer weiter voran. Mit der
Reichsprogromnacht am 9. November 1938 gipfelte diese systematische
Ausgrenzung zum ersten Mal in groß angelegten und gelenkten
Gewaltmaßnahmen gegenüber den Juden. Im Anschluss wurden immer mehr
Juden in Konzentrationslagern deportiert und ab 1941 systematisch in
sogenannten Vernichtungslagern ermordet. Auch in Bielefeld kam es zu
Übergriffen und Deportationen von Juden und anderen Menschen, die
das NS-Regime als „minderwertig“, störend oder aufwieglerisch
erachtete. In besonderer Erinnerung ist Inge Winterhalter die
jüdische Familie Grönewald.
„Meine Mutter Klara
Gössling war Schneiderin und ging nachts heimlich zu der Familie
Grönewald, um bei ihnen für die Anfertigung von Kleidung Maß zu
nehmen. Wenn herausgekommen wäre, dass sie für eine jüdische
Familie Kleider schneidert, hätte meine Mutter mit schweren Strafen
rechnen müssen. Zum Dank erhielt sie von der Familie eine
Kristallschale, die wir heute noch besitzen. Viele Familien brachten
ihre Kinder ins Ausland als die Ausgrenzung und die Verfolgung der
Juden zunahm. So handelten auch die Grönewalds, indem sie ihre
Kinder nach Südamerika schickten. Herr Grönewald wollte Deutschland
nicht verlassen, weil er der Auffassung war, dass ihn und seine Frau
seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg vor weiteren Übergriffen des
NS-Regimes schützen würde.
Mit vielen anderen Juden
wurden auch die Grönewalds vor ihrer Deportation in ein
Konzentrationslager in einem Saal am Kesselbrink gesammelt und
mussten unter Zwang unterschreiben, dass sie auf ihr Haus und ihren
übrigen Besitz verzichten. Als die Menschen in Bielefeld davon
erfuhren, begannen sie, das Haus der Familie zu plündern. Nach der
Schule, ich muss etwa elf Jahr alt gewesen sein, ging ich zusammen
mit einer Schulfreundin zu dem Haus, wo viele andere Leute dabei
waren, Dinge aus dem Haus zu tragen. In einem Zimmer fanden wir
einige Nesthäkchen-Bände der Kinderbuchautorin Else Ury, die wir
beide sehr gerne lasen. Als ich mit dem Buch nach Hause kam, war
meine Mutter entsetzt und schickte mich zurück in das Haus der
Grönewalds. Meiner Mutter ließ den Einwand nicht gelten, dass meine
Schulfreundin sich dann das Buch nehmen würde und unter Tränen
legte ich den Nesthäkchen-Band wieder zurück in das Zimmer im Haus
der Grönewalds.“
Der Schildescher
Viadukt
Mit vielen
geschichtsträchtigen Orten in Bielefeld verbindet die 82-Jährige
auch ihre ganz persönliche Geschichte. Dazu zählt besonders der
Schildescher Viadukt, der das Johannisbachtal überbrückt und so den
Zugverkehr zwischen Minden und Hamm ermöglicht. „Die Bahnstrecke
ist nur einen Kilometer weit entfernt von meinem Haus. Als die
Eisenbahnbrücke 1847 erbaut wurde, half mein Ur-Großvater beim Bau.
Weil zunehmend immer mehr Unternehmen ihre Fertigung auf automatische
Webmaschinen umstellten, gehörte auch er zu den vielen Angestellten,
die ihre Arbeit in den Textilmanufakturen verloren. Folglich war er
sehr froh, auf der Baustelle des Viadukts eine Anstellung zu haben.
Doch durch den feinen Staub auf der Baustelle zog er sich eine
Lungenkrankheit zu, die ihn bereits mit 48 Jahren dahinraffte.“
Als im September 1939 mit
dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, wurde
der Schildescher Viadukt zu einem wichtigen Ziel der alliierten
Bomberverbände. Erst kurz vor Kriegsende am 14. März 1945 konnten
britische Bomber den Viadukt mit einer zehn Tonnen schweren
Spezialbombe zerstören. Das Gebiet um die Eisenbahnbrücke glich
einer Kraterlandschaft. Nur wenige Häuser in der unmittelbaren
Umgebung blieben von den unzähligen Angriffen verschont – das Haus
von Inge Winterhalters Familie zählte dazu: „Für die Schildescher
war es ein befreiendes Gefühl. Mit der Zerstörung des Viadukts
mussten sie nun endlich keine Bomber mehr fürchten. Besonders
befreiend war es auch für mich, denn mein Vater war in der Wehrmacht
und wurde damit beauftragt, den Viadukt vor Sabotageakten zu sichern
und ihn beim Anflug von Bombergeschwadern zu vernebeln, um den
alliierten Besatzungen das Bombardieren der Eisenbahnbrücke zu
erschweren.
Nach der Kapitulation
Deutschlands am 8. Mai 1945 kamen immer wieder britische und
amerikanische Offiziere zur zerstörten Brücke, um die Schäden zu
begutachten. Für die Kinder, genau wie für meinen 1951 geborenen
Sohn Ulrich, waren die Ruine des Viadukts und die mit Wasser
gefüllten Bombenkrater wie ein großer Spielplatz. Nach dem Krieg
war mein Mann bei der Baufirma Philipp Holzmann tätig. Als die
Brücke wieder aufgebaut wurde, war er auf der Baustelle als
Bauleiter tätig. Man kann also sagen, dass ich eine sehr gute
Verbindung zu diesem Bauwerk habe.“
Wenn ich beispielsweise
einkaufen gehe, mit der Straßenbahn in die Stadt fahre oder Freunde
besuche, komme ich an vielen Orten oder Gebäuden vorbei, mit denen
ich unzählige Erinnerungen verbinde. Das lässt Bielefeld und ganz
besonders Schildesche zu meiner Heimat werden.“
sw
sw
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